Eine meteorologische Poetik

In den neuen Fototafeln unternimmt Andreas Züst einen weiteren Schritt in der Verdichtung seiner umfassenden informationstheoretischen Kunststrategie seit den grossformatigen Pflanzenpigmentbildern von 1990-92. Die Überlagerung malerischer und fotografischer Bildinformation vereint mehrere, anscheinend heterogene Aspekte von Züsts Arbeit, die vor dem Hintergrund der persönlichen Biografie des Künstlers gewertet werden können. Der Zugang zur Arbeit soll in diesen Zeilen also nicht aus einer kunstkritischen, sondern aus einer medienanthropologischen Sicht mit dem Instrumentarium der Personal History betrieben werden. Dies erlaubt uns, die idiosynkratischen Faszinationen des Künstlers für bestimmte Werkmaterialien, prozessuale Abläufe und thematische Entscheidungen zu entschlüsseln, um schliesslich auf die Spur der Züst’schen Poetik zu gelangen.

I.
Ausschlaggebend für die Annäherung von Andreas Züst an die Welt der Erfahrungen ist die frühe Faszination für Wetterphänomene und Himmelserscheinungen. Der Knabe Züst verbrachte manche Stunden seiner Jugend in der genauen Beobachtung von Himmel und Wetter über dem elterlichen Haus am zürcheroberländischen Bachtel. Im Alter von acht Jahren begann er zu den vorgeschriebenen Zeiten drei Mal täglich die üblichen Parameter zu notieren. Durch Ferienarbeit in einer Gärtnerei ersparte er sich einen Thermohygrographen, einen Barographen, ein Anemometer sowie weitere meteorologische Instrumente, die es ihm erlaubten, genaue Messungen über Naturphänomene durchzuführen. Über die Gründe der Faszination des Knaben für Himmelsbilder und Wetterbedingungen zu spekulieren ist hier nicht der Platz. Die Tätigkeit und die erforderte konstante Disziplin aber haben eine existenzielle Auseinandersetzung mit formalen Begebenheiten geprägt, die sich von einer Begegnung mit der festkörperlichen Umwelt deutlich unterscheidet. Die fliessenden, unzuverlässigen, durchsichtigen, quasi-immateriellen Himmelsbilder öffnen das Auge für eine abstrakte, feinstoffliche Welt, in der die Imagination vorherrscht. Der - himmlische - Hintergrund, auf dem sich diese Bilder abzeichnen, gehört zusammen mit Meer und Wüste zu den grössten Gestaltungsflächen dieser Welt. Die konstante Auseinandersetzung mit den abstrakten Himmelserscheinungen fördert zudem die Fähigkeit, aus ihren Strukturen gewisse Gesetzmässigkeiten abzuleiten. Die vordergründig willkürlichen Gebilde definieren tatsächlich eine komplexe und umfassende Zeichensprache, die es zu erlernen gilt. Der Fachmann, der diese Sprache zu lesen vermag, kann nicht nur den Text der himmlischen Gegenwart lesen, sondern sogar einen Text der Zukunft entwerfen. Die vielschichtigen Informationsebenen der meteorologischen Daten bilden ein polysemisches Zeichengefüge, das einen spezifischen Umgang mit den Begebenheiten der so genannten Realität begünstigt und immer wieder nach den Gesetzen einer freischwebenden, immer wieder neu zu formulierenden Grammatik rekombiniert und interpretiert werden muss.

Seit den jugendlichen Himmelsbeobachtungen hat Andreas Züst das Feld seiner Beobachtungen erweitert resp. vertieft. Zu den erdgebundenen Himmelserscheinungen der Wetterbedingungen fügte sich das Studium der kosmischen Himmelskarten, das die Dimensionen des Geschehens bis an die Grenzen der wahrnehmbaren Welt führte. 1973 reiste Züst in den Sahel, um dort die günstigsten Bedingungen für die Beobachtung der Sonnenfinsternis vom 30. Juni vorzufinden – aber auch um den meteorologischen Erfahrungsbereich auf die Wüstenebenen zu erweitern. Zwischen 1974 und 1977 arbeitete Züst als Assistent des Geographischen Instituts der Technischen Hochschule für das «North Water»-Forschungsprojekt. Er leitete die Wetterstation auf den Carey Islands in Nordwestgrönland sowie auf Cape Herschel, Ellesmere Island, in den Nordwestterritorien von Kanada. Seine Begegnung mit den Nordlichtern hat er mittlerweile in die zusammen mit dem schweizer-kanadischen Experimentalfilmer Peter Mettler realisierte 50-minütige Dokumentation «Northern Lights» eingebracht. Und auch heute noch flattern alle Tage die Kopien des Abonnements der einmaligen Berliner Wetterkarte der Freien Universität Berlin ins Haus und werden genauestens studiert.

Eine weitere ausschlaggebende Erfahrung für den heranwachsenden Züst war zweifelsohne die regelmässige Lektüre der wohl umfassendsten, aufs Präziseste recherchierten und «seriösesten» Tageszeitung der Welt, der Neuen Zürcher Zeitung. Seit dem Alter von zehn Jahren zerpflückt Züst jeden Tag das halbe Dutzend Bünde der wortlastigen Zeitung. Warum der Knabe Züst diesen frühzeitigen Informationshunger entwickelte, ist hier wiederum nicht der Platz zu spekulieren. Ein passionierter Zeitungsleser wird nur derjenige, der überhaupt einmal begonnen hat, Zeitungen zu lesen. Nun mag das Interesse von Züst für Tagesgeschehen, Hintergrundinformation und Analyse, Botschaften aus der Welt, über den Umweg der Lektüre der umfassenden Wetterberichte, Himmelskarten und wissenschaftlichen Beilagen der Neuen Zürcher Zeitung stattgefunden haben. Ein solches Interesse während jugendlicher Jahre ist für die Erziehung zur Annäherung an die Welt der Phänomene wiederum prägend. Es fördert die Fähigkeit zur sinnstiftenden Kombinierung komplexer Daten innerhalb kontinuierlicher und disziplinierter Zeitspannen. Es begünstigt, was man am besten als «Liebe zur Information» bezeichnen möchte. Der passionierte Zeitungsleser Züst als Beobachter von Phänomenen zweiten Grades fand in dieser Tätigkeit die günstige und notwendige Ergänzung zur empirischen Beobachtung der Himmelsphänomene. Züst absolvierte somit seit den jüngsten Jahren einen phänomenologischen Lehrgang, der sich bis in die neuen Fototafeln verfolgen lässt.

II.
Die 1960er Jahre bedeuten nicht nur die abgeschlossene Wiederaufbauarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern vor allem den Anfang der massiven Verbreitung von Informations- und Kommunikationsträgern und -technologien. Diese Verbreitung geht von Anfang an einher mit einer unmittelbaren Übernahme der verfügbaren Medien durch eine junge und kritische Generation. Sie stellt dabei nicht nur die zu vermittelnden Inhalte, sondern die Inhaltsträger selbst in Frage. Innerhalb der Presse- und Druckerzeugnisse sehen wir die Verbreitung der internationalen alternativen und unabhängigen Zeitungen, Zeitschriften und Buchpublikationen, in denen neue publizistische, grafische und typografische Stile erprobt werden. Die Perfektionierung und Erschwinglichkeit der Vinyl-Schallplatte fördert eine weltweite Musikkultur, die bald zum dominanten Faktor in der Vermittlung neuer, radikaler Inhalte wird. Die Entwicklung der Synchronton-Kamera bringt neue Formen des Autorenfilms und die freien Formen des Experimental und Independant Cinema mit sich. Das visuelle Informationsmonopol des Fernsehens, das in Europa erst richtig Fuss fasst, wird bereits durch die Bereitstellung der tragbaren Portapack-Videoausrüstung unterwandert. Die Dekade ist geprägt von einer durch die neuen Informationstechnologien oder -möglichkeiten bewirkten Informationsexplosion, die sogleich auch die Informationsmedien erfasst. Wir erleben damals auf breiter Ebene die selbstreflexive Beschäftigung mit der mediatisierten Information; mit einer Information, die nicht mehr im unmittelbaren sozialen Gefüge, sondern über seine technologische Reproduzierbarkeit verfügbar ist. Die Auswirkungen machen sich im politischen, wirtschaftlichen und vor allem auch im künstlerischen und wissenschaftlichen Leben bemerkbar und kündigen das Ende der sog. Moderne an. Von nun an ist jede Begebenheit des Lebens in ein komplexes System von Informationen eingebettet, das als Zeichensystem interpretiert und jeweils als spezifischer Metatext gelesen werden muss.

III.
Andreas Züst hat während der 1960er Jahre die mediale Informationsexplosion mit seiner bereits gefestigten Praxis des Beobachtens und Datensammelns besonders intensiv miterlebt. Das Haus Spiegelberg ob Wernetshausen wurde zu einer Drehscheibe der neuen Informations- und Kommunikationskultur. Zur Neuen Zürcher Zeitung gesellten sich Musik-Fachzeitschriften, amerikanische und europäische Free-Press-Produkte, Underground Comics, Kunstzeitschriften. Die Lektüren erweiterten sich auf anthropologische Fachliteratur, Reiseberichte, Botanik, Soziologie, Kunsttheorie, Trivialliteratur, aber auch auf zahlreiche Schriftstücke der Beat Generation, über psychedelische Pamphlete bis hin zur theoretischen Literatur der kritisch-oppositionellen Jugendbewegungen. Eine besondere Stellung beginnt fortan die Sammlung von Grammophon-Platten im Leben von Züst einzunehmen. Die Ausrichtung ist wiederum eklektizistisch: In seinen Regalen treffen sich John Cage, alte Blues-Meister, Sun Ra, Gesualdo, Coltrane, Hendrix, Electric Prunes, Jazz- & Lyrik-Elaborate, Schlagermusik, Tonaufnahmen nordamerikanischer Indianerrituale …

Züst verfolgt mit grösster Akribie ausgewählte Gebiete zeitgenössischen kreativen Geschehens. Der interessante Aspekt in den damals entstandenen Datensammlungen ist wiederum die Konstanz und Disziplin, mit welcher er seine Aufgabe erfüllt. Die jeweiligen Informationssparten werden soweit wie möglich flächenmässig abgedeckt. Er ist sich dabei immer bewusst, dass eine gesamthafte Erfassung von Daten und Spuren nicht (mehr) möglich ist. Die Informationsexplosion der 1960er Jahre stellt den Beobachter vor das Dilemma, sich mit Teilaspekten und -informationen begnügen zu müssen. Ein relevanter Text muss aus diesem splitterhaften Weltbild zusammengeschustert werden. Die jugendlichen Erfahrungen in der Beobachtung und Interpretation von Himmelsphänomenen und die Liebe zur Information kommen dem Kulturaktivisten Züst während der 1960er Jahre zugute. Die heikle Gratwanderung zwischen empirischer Aufbereitung von Erfahrungsmaterial und kritischer Distanz zur «second hand information» aus etablierten wie alternativen Massenmedien ist fortan das Los zeitgenössischen Denkens. Der Mensch ist eingebettet in ein Netzwerk von widersprüchlichen und oft unvereinbaren Signalen. Die Strategie der jüdisch-christlichen, monokulturellen Verarbeitung und Stellungnahme der historischen Moderne erschöpft sich im weiten Feld fliessender, widersprüchlicher, immaterieller, plurikultureller Informationsteilaspekte. Der Zeitgenosse tut gut daran, das Geschehen - aus der weiten Welt wie aus dem persönlichen Erlebnisbereich - wie der Meteorologe anzugehen, der am Himmel die sich unaufhörlich verändernden Wolkengebilde innerhalb eines fluktuierenden, immer neu zu bestimmenden Metatexts liest. Die geisteswissenschaftlichen Prämissen zur neuen Denkdisziplin werden um die gleiche Zeit von Barthes, Eco, Levi-Strauss, Althusser, McLuhan, Lacan, Foucault, Deleuze gelegt. Die strukturalistischen Annäherungen an Literaturkritik, Anthropologie, Politologie, Soziologie, Psychiatrie und Philosophie proben erste Methodologien im Umgang mit den technologisch reproduzierbaren Informationen des einsetzenden elektronischen Kommunikationszeitalters. Informationen werden in diesem Sinn nicht mehr als gesondert zu betrachtende, in sich geschlossene Einheiten, sondern als Elemente einer übergreifenden Struktur innerhalb ihrer Stellung im textuellen Netzwerk analysiert. Ausschlaggebend für eine solche Analyse ist denn immer auch die Qualität des Informationsträgers selbst. Die Analyse von Informationsnetzwerken ist immer auch eine Reflexion über das Medium der Information. Von daher wird Denken auch immer ein Denken über das Denken (über das Kunstmachen, Politisieren, Forschen, Handeln …) sein.

IV.
Mit der Anschaffung einer Fotoausrüstung für die Sahel-Reise (1973) entwickelt Züst eine neue Praxis der Datenaufbereitung. Die Spuren seiner Beobachtungen waren bisher lediglich in Zahlenangaben in den zahlreichen Tagebüchern mit meteorologischen Messungen aufgezeichnet. Die Sahel-Reise zur Beobachtung der Sonnenfinsternis wurde für die neue Strategie der Spurensicherung ausschlaggebend. Nicht nur sollte das Himmelsereignis fotografisch festgehalten werden, sondern darüber hinaus der geografische, kulturelle und soziologische Kontext. Einerseits wurden die Licht- und Farbqualitäten der meteorologischen Beobachtungen zunehmend wichtiger, andererseits gewann das irdische Umfeld an Bedeutung. Züst begann mit der Fotografie Brücken zwischen den immateriellen Wolkengebilden und den menschlichen Konstellationen zu schlagen. Neben der meteorologischen beginnt sich eine soziografische Praxis zu entwickeln, die sich sowohl an der jugendlichen Disziplin wie an das Archivieren von Kulturartefakten der 1960er Jahre anlehnt. Der Beobachter integriert sein Umfeld und wird so zu einem teilnehmenden Beobachter. Er konzentriert seine Feldforschung auf den häuslichen Bereich, der mittlerweile zur Schaubühne und Drehscheibe einer repräsentativen Kunst- und Kulturszene umgebaut und eingerichtet (1975) worden war und von den einschlägigen Protagonisten rege benutzt wird. Nachdem das Haus Spiegelberg zuerst hauptsächlich Archiv war, wird es nun zum Kultur-Biotop, in dem der Hausherr zusammen mit seinen Gästen sowohl Teilnehmer wie Beobachter ist. Die Spuren der Tätigkeit schlagen sich in der Anlage eines umfassenden Archivs von Fotonegativen nieder, das mit derselben Akribie und Disziplin geführt wird wie auch seine meteorologischen Beobachtungen. Der Fotoapparat wird den Künstler von nun an bei jeder Gelegenheit begleiten. Die optische Prothese stellt sich zwischen den Beobachter und sein Subjekt und hält gleichzeitig die wahrgenommene Information fest. Die empirische Begegnung mit dem Objekt ist mit der mediatisierten Information – dem Fotonegativ - verbunden. Die beiden jugendlichen Erfahrungsstrategien von Andreas Züst werden in einem technologischen Prozess vereint. Die Aufmerksamkeit des Beobachters konzentriert sich auf den schwer definierbaren Begriff des sozialen Umfelds – einem durch Affinitäten, Freundschaften, Zufallsbegegnungen, Interessengemeinschaften, Kollaborationen aufgebauten Netzwerk von Beziehungen, das in seiner Eigenschaft als Netzwerk nur durch die Teilinformationen seiner Protagonisten definiert werden kann. 1987 erschien der Band Bekannte Bekannte mit einer Auswahl von 561 Fotos aus dieser Zeitperiode, der nicht nur eine Dokumentation der einzelnen Informationsträger («Edelsteinhändler, Erleuchtete, Experten oder Stars, Landwirte, Gitarristen, Gruftführer, Dichterinnen und Hunde, Hühnerhofbesitzer, Pilzkenner, Panduren und scheue Gazellen, Bankiers, Anthroposophen, Automechaniker, Barmänner, Esoteriker, Gratwanderer, Chirurginnen, Frauenmädchen und böse Buben») aus dem Züst’schen Kultur-Biotop ist, sondern darüber hinaus eine präzise Darstellung der Struktur des Netzwerks wiedergibt. Die einzelnen Akteure sind zugleich als geschlossene Informationseinheit (Persona) wie auch als Teilinformation (Zeichen) der Gesamtstruktur (Text) erkennbar.

Während der 1970er Jahre wendet sich Züst mehr und mehr seinen botanischen Interessen zu. Auf einsamen Streifzügen in naher und ferner Umgebung um das Haus Spiegelberg betreibt er eine Wiederentdeckung der lokalen Vegetation unter den spezifischen Gesichtspunkten ihrer gestalterischen Verwendbarkeit und vor dem Hintergrund von Volkslegenden, Zauberritualen, Giftküchen, Hexenbräuchen … Farbstoffe, Säfte, Pilzsporen, Nachtschattengewächse und Beeren werden nach Hause getragen und auf Papierfolien zum Trocknen ausgelegt. Die auf dem Papier hinterlassenen Spuren während des Trocknungsprozesses erleben denselben Interpretationsprozess wie die Wolkengebilde am Himmel oder die sozialen Konstellationen im Kultur-Biotop.

V.
Das Grundmaterial für die neueren Fototafeln Züsts ist somit ausgelegt. In der Überlagerung mehrerer Informationsschichten, die sowohl die diffuse Qualität meteorologischer Phänomene wie den beladenen Bildgehalt historischer Fotografie vermitteln, schlägt Züst eine neue Brücke zwischen empirischem und erkenntnistheoretischem Materialumgang. Die einzelnen Tafeln bilden per se ein Informationsnetzwerk. Sie funktionieren aber auch innerhalb der Serie, die eine übergeordnete Struktur vermittelt. Die Tafeln können als formale Verdichtung rekursiver Informationsvermittlung gelesen werden. Jede Information – inhaltlich, ästhetisch, materialverwandt, prozessual, technisch – kann als Anhaltspunkt für die erweiterte Lektüre genommen werden. Sie gibt dabei als eine in sich geschlossene Information auch den gesamten Bildinhalt preis. Aus den bisherigen existenziellen Strategien von Andreas Züst dürfen wir wohl schliessen, dass die systemisch-konzeptuelle Ebene Vorrang vor der visuellen Ebene hat, obschon gerade das visuelle Material die Grundlage für die erkenntnistheoretische Strategie bildet. Es geht Züst nicht in erster Linie darum, ein ästhetisches Statement zu machen, sondern eine Poetik zu entwickeln.

Robert A. Fischer, März 1993