Für Andreas, den inspirierten Archivar

ZWEITER WELTKRIEG, MACHT, GEWALT: Start einer Bomberstaffel im Zweiten Weltkrieg; Frau mit Gasmaske schiebt einen Kinderwagen vor dem UfA-Filmpalast in Berlin 1945; Reise in die Vergangenheit heisst der Film; ich nehme an, es ist ihr Baby im Kinderwagen, sagt Andreas, das Foto tauchte kürzlich im Spiegel auf, ein berühmtes Bild, eines der wenigen berühmten Bilder, die Züst für seine Übertragungen verwendet, also z.B. nicht jene bekannte Vietnam-Fotografie, wo der südvietnamesische General auf offener Strasse einen Vietcong exekutiert, sondern anonymere Sachen, von der US-Army trainierte Seehunde bei der Minenentschärfung, russische Polizei, wie sie einen Moskauer Mafioso zu Boden zwingen, der den anwesenden Presseleuten bereits ein Interview in die Mikrofone spricht, zur Munitionsherstellung eingezogene Kirchenglocken in einer deutschen Waffenfabrik, Luftaufnahme einer Landschaft mit Bombentrichtern mit dieser absurd konkaven Plastizität, dem irrealen Muster aus schwarzen Löchern; die Somalia-Landung der US-Truppen; das anonyme Flüsschen in Serbien, wo die Wasserleichen das Ufer wie Schwemmgut drapieren, unbeachtet von den Lebenden; Sensationen, böse Bilder, Katastrophen, vergangene und kommende; atomgetriebene Superkriegsschiffe im Hafen von Murmansk, Rommels Truppen in Libyen, die Finnenfront … eine B-29 auf dem Flugplatz Dübendorf vor einer Schafherde, Schweizer Soldatenweihnacht.

Thema FLIEGEREI: die zwei ersten russischen Affenkosmonauten, Luftschiff abstürzend, UFO-«Fotografien» aus den 1970er Jahren, wissenschaftliche Zeichnungen eines Ufologen, auf denen man sieht, wie das UFO sich bewegt; Bilder aus dem Buch Frauen in der Fliegerei, ein schöner Titel, darunter auch dasjenige einer Indianerin in Stammesbekleidung, posierend vor einem Cockpit samt der (für New-Age-Indianerfreunde etwas irritierenden) Legende: «Mary Riddle from Seattle, only Indian woman flier has an important message»: «Come on, let’s help fill the sky with thunderbirds!»; fliegende Vampires am Schweizer Himmel, eine Bubenerinnerung, die unwirklichen Umrissformen des Tarnbombers B-2, der bereits wieder veraltet ist, wie Züst bemerkt; Aurora heisst die noch nie gesehene nächste Generation, die dank Mach 8 in zwei Stunden im Irak sein soll; es sind, wenn man so will, zugleich die entscheidenden und gewisse abseitige, vernachlässigte Dinge, wofür sich Züst interessiert (und es gibt wenig, wofür er sich überhaupt nicht interessiert); weitere Bildreihen umfassen die Themen METEOROLOGIE (Tornados, Hurricanes, Blizzards, Sandstürme, Gerölllawinen und andere natürliche Katastrophen), FRÜHE ZEICHEN UND SYMBOLE MENSCHLICHER KULTUR, SCHAMANISMUS, GELD, TOD, FRAUEN. Vor dem Künstler kommt immer der Forscher, der Informationssammler, der Bildarchivar Züst. Für seine neuesten Werke verwendet er keine eigenen Fotografien, sondern nur gefundene Bilder aus Presse und Büchern, die in einem mehrstufigen Prozess auf Sperrholzplatten übertragen werden; teils sind die breiten Pinselspuren der lichtempfindlichen gelatineartigen Emulsion noch sichtbar; teils wird mit Ölfarbe übermalt, nachgemalt, verdeutlicht, retouchiert, derealisiert; die fundamentale Unwirklichkeit, der projektive Charakter der Fotografie, dieser scheinbaren Blicke in eine wirkliche und geschichtliche Welt, kommt zum Vorschein und wird akzentuiert; auf den informierten Sperrholzplatten bilden sich schemenhafte Präsenzen ab, alles verwandelt sich in gespenstisch getrübte Apparition, düstere Phantasmen hinter Schlieren, hinter nebligen Schwaden von Lasur und Emulsion halb gesehen, halb geträumt, imaginiert, wie man so sagt, fast so wirklich wie fotografierte Untertassen, unidentified images, showbusiness, gelegentlich glamourös dekoriert mit breiten Glimmerstreifen links und rechts.

Patrick Frey, März 1993