Verwandte Geister

Von welcher Seite man sich auch nähert, immer erscheint der Sammler Andreas Züst in anderem Licht und es treten andere Aspekte seines Sammelns hervor. Der Sammler und das Sammeln stehen meist im Vordergrund, das Gesammelte, die Sammlung mit ihren vielen Facetten ist hingegen viel schwieriger zu fassen. Erklären lässt sich das aus der Grundhaltung von Andreas Züst, der Kunst und Leben als ein dichtes Geflecht sah und das Sammeln lange Zeit eher als Dokumentation und Resultat seines Lebensweges betrachtete denn als bewusste und durch zielgerichtete Neugier beförderte Tätigkeit.

Punktuell kreuzen sich in dieser schier unermesslichen Fülle von Werken verschiedene Linien, eröffnen sich Bezüge und verdichten sich besondere Interessenzonen. So hat Andreas Züst zum Beispiel eine Sammlung von Objekten und Kunstwerken zusammengetragen, die mit der Arktis und Expeditionen ins ewige Eis zu tun haben. Genährt wird dieses Interesse von eigenen Erfahrungen auf Reisen in die nördlichsten Breitengrade, vom Forscherdrang und einer Beschäftigung mit Wissensgebieten ausserhalb der Kunst. Charakteristisch ist, dass Andreas Züst dabei ästhetische Ansprüche hintanstellt, sich vorwiegend am Motiv orientiert und sich auch über Wundersames und Absonderliches freut. Anders gelagert ist der kontinuierliche Aufbau der umfangreichen Werkgruppe von Friedrich Kuhn, in der das Interesse für Aussenseiter kulminiert. Ganz offensichtlich - und das beweist nicht nur der Umfang dieser Werkgruppe - hat der Sammler hier bewusst einen Fokus auf einen bestimmten Künstler gesetzt und war auf eine repräsentative Werkauswahl bedacht. Kuhn erscheint hier nicht nur als Outlaw in der langen Reihe der Aussenseiter, für die Andreas Züst besondere Sympathien hegte, sondern mit dem ganzen Potential seiner Kunst, welcher der Sammler besonderes Gewicht beimass.

Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich bei einem zweiten «Lieblingskünstler» von Andreas Züst: bei Dieter Roth. Neben den Werk-gruppen von Friedrich Kuhn, Anton Bruhin und David Weiss gehört die-jenige von Roth zu den umfangreichsten dieser Sammlung. Für Roth hat sich Züst als Sammler allerdings erst relativ spät interessiert, dann aber umso nachdrücklicher. Die hohe Wertschätzung für diesen Künstler manifestiert sich etwa darin, dass Richard Hamiltons Porträt von Dieter Roth (Abb. S. 281) bei Andreas Züst prominent hing und auch Roths Selbstbildnis Portrait of the artist as Vogelfutterbüste (Abb. S. 308) in seinem täglichen Umfeld sehr präsent war. Und schliesslich zeugen die Fotos, die Züst von diesem «Grossmeister der Kunst» (Bekannte Bekannte 2, S. 432) bei Begegnungen in den 1990er-Jahren machte, vom besonderen Respekt diesem Künstler gegenüber, den wir als einen Leitstern des Sammlers bezeichnen möchten.

Um das spezifische Interesse von Andreas Züst für Dieter Roth zu verstehen, lohnt es sich, die Werkgruppe genauer zu betrachten, die der Sammler von diesem Künstler zusammengetragen hat. Dazu gehören drei bedeutende Grafikserien: 6 Piccadillies (1969 / 70, Abb. S. 309) ist seine wohl bekannteste und populärste Edition. Dafür hat Roth auf eine banale Bildvorlage zurückgegriffen: eine Postkarte des belebten Piccadilly Circus in London. Er vergrösserte diese und druckte sie zunächst im Offsetverfahren in extremen Farbvarianten, um anschliessend die Vordrucke im Siebdruck weiter zu bearbeiten und dabei die Drucktechnik bis an die Grenze des Möglichen auszureizen. Die zweite Mappe aus der Sammlung Züst, die Containers (1971 -1973, Abb. S. 312), gilt als Hauptwerk und Höhepunkt im druckgrafischen Schaffen von Dieter Roth. Sie besteht aus 33 verschiedenen Blättern und verbindet viele seiner druck-grafischen Erfindungen aus den 1960er-Jahren. Der Erfindungsreichtum und Variationsgehalt im druckgrafischen Werk wird hier nicht nur ausgebreitet, sondern zugleich auch in einem archivarischen Konzept vorgeführt, das vom Motiv des «Containers» über die Aufbereitung des Inhalts in Verzeichnissen und Beilagen bis hin zur Gestaltung der ganzen Mappe reicht. Das macht diese Edition für den Sammler doppelt interessant, weil hier die Kunst das Sammeln selbst zum Thema hat und die eigene Tätigkeit reflektieren lässt. Surtsey schliesslich (1973 /   74, Abb. S. 283), die dritte Roth-Mappe in der Sammlung Züst, zeigt eine Vulkaninsel als Stillleben. Wieder experimentiert der Künstler mit der Drucktechnik: Einerseits fungieren die verschiedenen Farbauszüge des Druckers als Stimmungsträger, während gleichzeitig das didaktische Aufzeigen der technischen Angaben zum Teil des Kunstwerks wird. Doch nicht nur die künstlerische Hochleistung, die Dieter Roth in diesen Grafikserien erbringt, beeindruckt den Sammler, zwischen 6 Piccadillies und Surtsey spannt sich auch ein für Andreas Züst besonders bedeutsamer Interessensbogen: Surtsey, Roths Hommage an das Anfang der 60er-Jahre -vor der Südküste Islands neu entstandene Eiland, fasziniert Andreas Züst als Kunstfreund und Sammler ebenso wie als Naturforscher und -beobachter, und es stellt gleichzeitig auch ein Gegenbild zum pulsierenden Grossstadtleben der Piccadillies dar. In diesen Bildfolgen manifestieren sich die für Roth und Züst gleichermassen wichtigen Lebensräume der urbanen Welt einerseits und der einsamen Natur anderseits - höchste Aktivität und Rückzugsmöglichkeit bedingen sich im Leben beider Protagonisten gegenseitig. Auch wenn sich in dieser Sammlung noch weitere druckgrafische Werke von Dieter Roth befinden, machen die drei Mappenwerke bereits deutlich, dass Andreas Züst hier eine weit bewusstere und konzisere Auswahl getroffen hat als sonst und damit als Sammler in Erscheinung tritt, der sowohl Dieter Roths künstlerische Ansprüche reflektiert wie auch seinen eigenen, ganz persönlichen Neigungen folgt.

Zudem hat Andreas Züst mehrere Materialbilder von Dieter Roth erworben, wie sie seit Mitte der 1970er-Jahre in dessen Ateliers zwischen Basel, Stuttgart, Hamburg und Mosfellsveit / Island entstanden sind. Während Roth quer durch Europa nomadisiert und dabei das Zeichnen und Tagebuchschreiben auch aus praktischen Gründen zu seinem zentralen künstlerischen Ausdrucksmittel macht, wachsen die Materialbilder oft über mehrere Jahre kontinuierlich an. In einem geradezu ausufernden Prozess fügt der Künstler seinen Bildobjekten immer wieder Objekte und Malutensilien hinzu, die ihn bei seiner Arbeit umgeben. Er rückt damit das Bildermachen ins Zentrum des Interesses und macht die künstlerische Tätigkeit und sich selbst zum Thema seiner Arbeit. Dieser von Dieter Roth selbst inszenierte Blick über die Schulter des Künstlers scheint Andreas Züst derart fasziniert zu haben, dass er sich als Sammler auch finanziell in einem für ihn bisher ungewohnten Masse engagiert und eine stolze Gruppe von Materialbildern zusammengetragen hat.

Den dritten Schwerpunkt in dieser besonderen Roth-Kollektion bilden die Zeichnungen. Das Zeichnen ist für das künstlerische Selbstverständnis von Dieter Roth von zentraler Bedeutung. Roth zeichnete unentwegt, mal spontan kritzelnd, mal sorgfältig komponierend. Immer wieder sind grössere Serien oder eine Vielzahl von Blättern in schneller Abfolge als Ausfluss permanenter Kreativität entstanden. Er kenne niemanden, der eine ähnlich kurze Übersetzung vom Kopf in die Hand habe, konstatiert sein Freund Karl Gerstner (1), und an anderer Stelle lesen wir. «Die zeichnerische Linie umreisst nicht mehr, sie definiert nicht, sondern fliesst ... Sie führt zurück auf das Selbst ... Von da an ist sie das Instrument, Kunstprozess und Lebensprozess identisch zu machen.» (2) Entsprechend häufig umkreisen Roths Zeichnungen der 1970er und 1980er-Jahre das (Selbst-)Porträt. Der Künstler hat die Selbstbe-fragung bis zur Selbstauflösung getrieben. Andreas Züst, der sich immer wieder für die Unangepassten starkmachte, hat die Wider-sprüchlichkeit und Widerspenstigkeit erst recht für diesen Künstler eingenommen. Nachdem er in den 70er- und 80er-Jahren in Zürich und Düsseldorf erlebt hat, dass die Kunst nicht ein abgetrennter Bereich ist, sondern zum Leben gehört, gar das Leben prägt, entdeckt er bei Roth stärker und radikaler als sonst wo, wie in Umkehrung der Perspektive nicht die Kunst zum Leben, sondern das Leben in die Kunst kommt. Bei Dieter Roth ist Andreas Züst der Kunst und dem Künstlersubjekt so nah wie kaum je sonst - vielleicht nicht so sehr auf persönlicher Ebene, dafür aber aus der Perspektive eines gereiften Sammlers und selbst aktiven Künstlers, der erkennt, dass er mit seiner Sammlung ein Spiegel seiner selbst ist.

Dieter Roths Kunstbegriff ist umfassend: Roth war Grafiker, hat Möbel entworfen, gemalt, gezeichnet, Plastiken und raumgreifende Installationen realisiert, mit allen möglichen und unmöglichen Materialien gearbeitet, er war als Dichter und Musiker tätig, hat Künstlerbücher gemacht und verlegt, gefilmt, fotografiert und gesammelt. Damit berührt er nicht nur verschiedene Interessensgebiete von Andreas Züst, sondern verkörpert als Universalist dessen Idealvorstellung eines Künstlers. Und wenn Andreas Züst immer wieder nach Geistesverwandten gesucht hat, scheint Dieter Roth diesen Wunsch in hohem Masse zu erfüllen.

Dieter Roth ist in seiner Radikalität ein Einzelgänger. Dennoch fungiert er gerade auch durch seine vielen Aktivitäten als Nukleus. Er hat Gemeinschaftsarbeiten mit andern Künstlern (und seinen Kindern) realisiert, Aktionen mit Freunden bestritten oder Bücher von ihnen verlegt. Auch das macht ihn für Andreas Züst interessant. Denkt man diese Sammlung von der Idee aus, dass der Sammler nicht einzelne Künstler isoliert, sondern in einem Beziehungsnetz wahrnimmt, liegt der Fokus weit weniger auf dem Einzelwerk oder der einzelnen Werkgruppe als auf den übergreifenden Zusammenhängen. So eröffnen sich rings um Dieter Roth zahlreiche Beziehungsfelder: etwa zu den Fluxus-Künstlern, die mit ihren vielfältigen Aktivitäten seit den frühen 1960er-Jahren an neuen, die traditionellen Gattungsgrenzen überschreitenden Formen der Kunst arbeiteten. Zum weit verzweigten, sich stetig verändernden und bewegenden Fluxus-Netzwerk gehören auch Emmet Williams und seine Frau Ann Noël, Tomas Schmit, Henning Christiansen und Ben Pattersen, von denen Andreas Züst ebenfalls Werke erworben hat. Allerdings scheint der Sammler dabei weniger an der ohnehin nur schwer fassbaren kunstgeschichtlichen Bewegung interessiert als vielmehr am künstlerischen Ansatz von Fluxus, der auf das Flüchtige und die Poesie alltäglicher Ereignisse und Gegenstände zielt. Andreas Züst selbst machte sich dieses Credo zu eigen: Er sammelte Ephemeres und umgab sich mit Dingen, die voller Geschichte sind und als Anreger und Stimulans funktionieren, auch wenn Herkunft und Autor unbekannt bleiben. In den Werken von Peter Green und Suse Wiegand klingt dieses Interesse weiter nach und erscheint in künstlerisch verdichteter Form.

In das Umfeld von Fluxus und Intermedia gehört auch der aus Luzern stammende, seit 1951 im Ruhrgebiet lebende André Thomkins. Thomkins ist der Vernetzer par excellence, der die verschiedenen künstlerischen Medien und Techniken ebenso wie Menschen -und Zeiten miteinander zu verbinden weiss und in seiner Kunst Forschungsreisen in entlegene Wissensgebiete unternimmt. Als Künstler-Künstler hat er immer wieder Weihen von höchster Seite erfahren. Als einer der wichtigsten Zeichner seiner Zeit ist er auch einer der Protagonisten in einem Feld, das in dieser Sammlung aussergewöhnlich gross ist. Das besondere Interesse von Andreas Züst an diesem Medium zeigt sich schon im näheren freundschaftlichen Umfeld des Sammlers und in den oft umfangreichen Werkgruppen und Zeichnungsserien von David Weiss, Anton Bruhin, Markus Raetz oder Hugo Suter. Die «Mentalität Zeichnung» prägt in den 1970er-Jahren eine ganze Generation von Künstlern (in der Schweiz) und befördert die zuweilen humorvoll vorgetragene Untersuchung von Denk- und Wahrnehmungsmustern. Spuren des Alltags werden assoziativ weiterentwickelt und Gesehenes und Erinnertes, Persönliches und Öffentliches, Traum und Wirklichkeit überlagern sich in zuweilen geradezu narrativen Bildkonfigurationen. André Thomkins, Dieter Roth, Jan Voss, Tom Wasmuth, Dominik Steiger, Nanne Meyer erweitern diesen Teil der Sammlung ins Internationale. In ihren Werken spielt immer auch die Sprache eine wichtige Rolle, die neben den bildnerischen Zeichen zusätzliche Angelpunkte für weitere Gedankengänge bietet und die Vorstellungswelt dynamisiert. Dass sich von hier aus zahlreiche Fäden in die reiche Bibliothek von Andreas Züst spinnen lassen, versteht sich, nicht nur, weil die meisten dieser Künstlerinnen und Künstler auch eine besondere Affinität zum Künstlerbuch haben, sondern weil sie auch mit SchriftstellerInnen kooperieren. Einige von ihnen, zum Beispiel Thomas Kling oder Peter Weber, gehören selbst zum engeren Beziehungsnetz des Sammlers.

In Bezug auf den hier fokussierten Teil der Sammlung lassen sich abschliessend auch interessante Feststellungen machen, wo und unter welchen Umständen Andreas Züst seine Sammlung aufbaute. Die Frage ist hier deshalb interessant, weil weder Roth noch Thomkins, weder Jan Voss noch Tom Wasmuth, weder Nanne Meyer noch Suse Wiegand zum soziokulturellen Umfeld von Andreas Züst gehören, sondern in der Sammlung einen Bereich eröffnen, dem sich Andreas Züst mit Bedacht zuwandte. Leider lässt sich im Rahmen der Sammlung die Provenienz vieler Werke mehr erahnen als belegen; das gilt aber nicht für die hier betrachteten Werke, die alle spät angekauft wurden und deren Ankauf auch dokumentiert ist. Die aufbewahrten Kaufquittungen belegen, dass die Werke von Dieter Roth zum Beispiel ausnahmslos in Zürcher Galerien erworben wurden. (3) Das heisst, dass Andreas Züst bei aller Faszination für diesen Künstler der Versuchung nicht erlag, im internationalen Kunsthandel nach geeigneten Werken zu suchen, sondern seinen Galeristen in Zürich, bei denen er auch Werke seiner Künstlerfreunde kaufte, treu blieb. Demnach bestimmte das Angebot die Sammlung mit, im Fall der Galerie von Marlene Frei prägt das Galerieprogramm gar einen ganzen Teil der Sammlung: Jan Voss, Tom Wasmuth, Nanne Meyer, Peter Green, Suse Wiegand wären kaum in der Sammlung vertreten, wenn Andreas Züst ihre Werke nicht in der Zürcher Galerie entdeckt hätte. Ob dabei auch Dieter Roth, der seit 1986 regelmässig bei Marlene Frei ausgestellt hat, Pate stand, bleibe dahingestellt. Das Programm dieser Galerie scheint auf alle Fälle für Andreas Züst massgeschneidert - und es hat ihn überaus glücklich gemacht, dass sein eigenes künstlerisches Werk neben diesen von ihm hoch geschätzten Künstlerkollegen hier eine Heimat gefunden hat.

Stephan Kunz

(1) Karl Gerstner in: «100 fragen an karl gerstner», freunde und freunde, friends, d'fruend, Kat., Kunsthalle Bern / Kunsthalle Düsseldorf, Bern / Düsseldorf: 1969, o. S.

(2) Hanna Hohl in: Dieter Roth. Zeichnungen, Kat., Hamburger Kunsthalle / Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart / Kunstmuseum Solothurn, Hamburg / Stuttgart / Solothurn: 1988, o. S.

(3) Bei Andy Illien, Silvio R. Baviera, Pablo Stählin, Marlene Frei.