Nicht nur ein Erinnerungsmacher

Lässt man den Memorizer in Züst und die damit verbundenen sozialen und in einem eigenen Sinne historischen Anliegen für einmal beiseite, so eröffnet sich einem eine – fast scheint es selbstvergessene – Welt aus Gartenarbeit, Naturbeobachtungen und Ausfahrten mit seinem Mazda, eine Welt, die ich während meiner Kindheit und auch später sehr zu schätzen wusste. Es sind dies Seiten des Künstlers und Sammlers, die er, der Privates ungern öffentlich machte, nur bedingt zur Schau gestellt hat. Bezogen auf die Kunstsammlung bietet sich dieses Wissen um seine Alltagswelt an, um dem Impuls auf die Spur zu kommen, der neben anderen, offensichtlicheren Kriterien zur Anschaffung eines bestimmten Bildes geführt haben könnte. So zumindest das Anliegen dieses Textes.

So war da – ich beginne mit einem scheinbar harmlosen Exempel – eine namenlose Katze, die, von Züst geschätzt, mit ihm zusammen hauste, sich aber in bäuerlich-traditionellem Sinne ihre Nahrung meist selbst beschaffte. Das Tier hatte über die Suche nach einer neuen Heimat in den Spiegelberg gefunden, wo es, ganz Katze, ein und aus ging und doch sein festes Plätzchen hatte. Als die mit einem guten Jagdinstinkt ausgestattete Katze aus unerklärlichen Gründen unter eine der Landwirtschaftsmaschinen des Nachbarn geriet und dort verendete, war Züsts Trauer – ganz unbäuerlich-untraditionell – gross. Dass er hernach ein Bild der auf roten Laken schlafenden braun-weiss getigerten Katze, eingeschmuggelt in eine grössere Werkgruppe von Reisebildern, ausstellte, kann als Liebeserklärung an ein Tier gelesen werden, dessen Anschaffung doch eigentlich dazu gedacht war, die Mäuse von den Wurzeln des Kirschbaums fernzuhalten. In der Kunstsammlung wiederum erhielten des Sammlers Leidenschaft für Katzen sowie – bei diesen Themen nicht zu unterschätzen – sein Humor hauptsächlich durch unterschiedliche Werke von Johannes Geuer und Walter Pfeiffer ihren Platz.

Ein anderer wichtiger Teil dieser Alltagswelt, die einen Gegenpol zu Züsts sonstigem Wirken bildete und als solche auch Eingang in die Kunstsammlung fand, war der Garten unterhalb seines Hauses am Spiegelberg. Und auch wenn ich diesen Garten aufgrund des regelmässig angeordneten Jätens nicht nur schätzte, so waren die seltenen, farblich und im Zeitpunkt ihrer Blütenpracht sorgfältig aufeinander abgestimmten Blumen doch beeindruckend. Über die Jahre hat mein Vater sich mehr und mehr den Blumen zugewandt – dies im Gegensatz zu seiner Mutter, die als in den Kriegsjahren geborene Ökopionierin ihr Leben lang dem Gemüse- und Früchteanbau treu geblieben ist.

Er verbrachte insbesondere in den Sommermonaten viel Zeit in seinem Garten, barfuss und in einer zerschlissenen kurzen Jeans, in den heissesten Monaten des Jahres schon frühmorgens mit dem Gartenschlauch in der Hand. Gerne zeigte er auch seiner Umwelt die Schätze, die er über die Jahre hinweg und nicht selten auf seinen zahlreichen Spaziergängen zusammengetragen hatte. In solchen Momenten vermochte der Sammler durchzuscheinen, ein Sammler, der sammelte, um andere an seiner Leidenschaft teilnehmen zu lassen. Diese Leidenschaft für Blumen ist in der Kunstsammlung vorwiegend bei Positionen zu finden, denen eine subtile Ironie im Umgang mit klassischen Sujets nicht fremd ist, bei Richard M. Brintzenhofe, Dieter Hall, Dieter Roth, Jean-Frédéric Schnyder und – nochmals – Walter Pfeiffer.

Gänzlich ironiefrei ist hingegen jener Bereich der Kunstsammlung, der sich mit Züsts Familiengeschichte assoziieren lässt. Auch seine Kindheit, so wie er mir diese geschildert hat, entbehrte grösstenteils der Heiterkeit. In einem kruden Spannungsfeld aus grossbürgerlichem Elitismus und intellektueller Avantgarde aufgewachsen, hatten er und seine Geschwister unter einem cholerischen Vater zu leiden, dessen Erziehungsmethoden so gar nicht zu seinen hochtrabenden Ideen einer neuen Gesellschaft passten. Und obwohl mein Vater – unter anderem dank seiner herausragenden schulischen Leistungen – dazu auserkoren worden war, ins Familienunternehmen und in die Fussstapfen seiner Tante zu treten, begann er sich bereits während seiner Mittelschulzeit für die Jugendkultur der späten 1960er-Jahre, für Musik und Drogen zu interessieren. Die Vorliebe für Abenteuer und Unterhaltung blieb bestehen: Züst hat in seinem Leben keinen einzigen schulischen Abschluss gemacht, sein bemerkenswertes Wissen erwarb er sich grösstenteils und abgestimmt auf seinen Lebensalltag im Selbststudium. Auch bei familiären Themen blieb er in einer Mischung aus Sorglosigkeit und Schwermut dem unkonventionellen Weg treu: Mit meiner Mutter hatte er nur kurz zusammengelebt, mit seiner langjährigen Lebensgefährtin gar nie, und auch sein Leben als Suitier führte ihn zu keiner Heimat. Vielleicht schätzte er gerade deshalb künstlerische Positionen wie jene von Annelies Štrba, die den familiären Lebensalltag – trotz unbestreitbar starker Bande – als prekäre Melange aus selbstvergessenem Glück und unvermeidbarer Verletzlichkeit festhält. Seine Kunstsammlung jedenfalls weist eine umfassende Werkgruppe von Štrba auf. Ähnliches kann auch für Gregor Lanz gelten, der zwar nicht die Familie ins Zentrum seiner Arbeit stellt, jedoch gleichfalls die Fragilität der eigenen Existenz zum Thema macht, eingefangen in schonungslosen Selbstporträts wie auch – gänzlich ironiefreien – Bildern seiner Katze. Die Familienbande legte hier übrigens der Sammler: Er, der Lanz schon als Kind kannte, sammelte ganz früh dessen Werke und hielt so dessen künstlerische Entwicklung fest. Gleichfalls vereinte er nicht nur diverse Bilder von Gregor Lanz, sondern auch solche von dessen Mutter Ella Lanz. Eines ihrer Bilder hatte Züst – von Herzproblemen und den Folgen eines Zeckenbisses geplagt – in sein Arbeitszimmer auf dem Spiegelberg gehängt: Das Bild zeigt eine nackte, nur dürftig mit einem Tuch und ihren Haaren bedeckte Frau in hamletschem Zwiegespräch mit einem Totenschädel.

Spiegelberg – überhaupt kann dieses alte Bauernhaus am Bachtel im Zürcher Oberland als eigentliches Epizentrum von Züsts Wirken bezeichnet werden. Heimat des Totenschädels, der Katze und der Blumen, wurde es von Züst ab den späten 1970er-Jahren – nach Verlassen des Elternhauses und Umwegen über Zürich und Grönland – bis zu seinem Tode bewohnt. Mein Vater hatte das Haus von meiner Grossmutter übernommen und diese wiederum über ihren Mann 1954 von einem gewissen Hans Anderegg. Derweil nach dem Umbau des Hauses 1978 anfänglich noch die Kommune und ihre Partys – überliefert sind Geschichten von Haschischschmuggel und Waffenschieberei – vorherrschten, waren es gegen Ende der 1990er-Jahre nicht mehr hauptsächlich das Soziale, sondern Züsts Ideenreichtum, seine Pläne und Projekte. Daneben legten sich – ein in seiner Absolutheit bis heute unerklärliches Phänomen – Schichten von Artefakten seiner Sammelleidenschaft übereinander, unaufhaltsam. Und obwohl mein Vater kontinuierlich damit beschäftigt war, diese abgelagerten Schichten durch Sichtbarmachung, durch Zeigen und Erklären in Bewegung zu halten, war der Kampf hoffnungslos: Das sorgsam angesammelte Wissen brachte sich fortlaufend selbst zum Verschwinden, wie das Beispiel der Geschichte eines Bildes von Marc-Antoine Fehr zeigt. Dieses Bild – La ville der Name und mit seinen Massen von zwei auf drei Meter nicht gerade klein – stand monatelang mitten im Wohnzimmer, angelehnt an eines der Schallplattenregale, und verdeckte dadurch einen beachtlichen Teil von Züsts Musikgeschichte. Das ins Positive gedrehte Sujet des kreativen Chaos, dieses Abbild der eigenen verwunschenen Welt, lässt sich denn auch einige Male in der Kunstsammlung wiederfinden. So bei Richard M. Brintzenhofe und Walter Pfeiffer, oder, geordneter, aber nicht weniger intim, bei Dieter Hall und – bis jetzt unerwähnt geblieben – Donatella Maranta. Der Spiegelberg selbst wiederum tritt in der Sammlung als solcher – und gänzlich frei von Chaos – bei Anton Bruhin und, mit einem Fragezeichen versehen, bei Marc-Antoine Fehr in Erscheinung.

Das letzte inhaltliche Thema, das ich hier aufbauend auf Züsts Lebensalltag in der Kunstsammlung verfolgen will, ist seine Leidenschaft für den Himmel und das Wetter sowie die darin verborgenen Wunder. Mein Vater – dank einiger Semester Geologie-Studium und einer grossen Leidenschaft fundierter Kenner dieses Elements – liebte es, in den Himmel zu schauen. Auch die Berliner Wetterkarte hat er täglich studiert. Und schon als kleiner Junge soll er jeden Tag genauestens Wetterlage und Temperatur notiert haben. Heute kann der Himmel als der wichtigste Bereich gelten, für den man ihn als Künstler kennt.

Für die Besucher des Spiegelbergs wiederum kam die Begeisterung für Himmelsphänomene auf unterschiedliche Art und insbesondere gegen Abend, in der Zeit der Dämmerung und während der Nachtstunden, zum Tragen. Zu jener Tageszeit trat der Naturbeobachter Züst in Erscheinung und liess einen an seinen Beobachtungen teilnehmen, ob auf einem Spaziergang, der Terrasse oder im Haus. Er war sich jedoch bewusst, dass seine Umwelt nur am Rande verstand, was in unserem Universum wirklich vorging. Für ihn aber war der Blick in den Himmel ein Blick zu den Wundern dieser Welt, die er in der ihm eigenen Mischung aus unmittelbarem Erfahren und analytischem Erfassen betrachtete. Spirituelle Ehrfürchtigkeit war nie sein Ding gewesen, zu stark war der Wissenschaftler in ihm ausgeprägt. So vermochte ihn meine Beschreibung eines Gewitters über New York, dem hunderte kleinster elektrischer Entladungen, eine durch hunderte von kleinen Blitzen erfüllte Stadtluft, vorausgingen, in zweierlei Weise zu bewegen: Gerne hätte er dieses Phänomen, so sein Geständnis, selbst – vor Ort, in jenem Augenblick – erlebt, aber auch als Erlebtes – in jenem Moment durch seine Kamera gebannt – in Besitz genommen. Die Leidenschaft des Sammlers als Vermittler kam insbesondere dann zum Tragen, wenn das Wetter für unmittelbare Naturbeobachtungen zu wenig hergab. Dann nämlich wurde der Diaprojektor aufgestellt, und Züsts gesammelte Himmelsphänomene begannen über die grob verputze Wohnzimmerwand zu flattern. In der Sammlung selbst sind der Himmel und das Wetter durch Positionen von Simone Kappeler, Nanne Meyer, Cécile Wick, der Schnee durch jene von Thomas Flechtner und Nives Widauer vertreten.

Andreas Züst verstarb am 7. August 2000, weder während der Nachtstunden noch im Schnee. Aber er verstarb unter freiem Himmel, in seinem Garten, angelehnt an seinen Spiegelberg. Gefunden hat ihn seine Mutter, nicht weit von dort, wo seine geliebte Katze ihren Tod gefunden hatte.

Mara Züst