Nacht Sehen — Andreas Züsts fotografische Nocturne

«Man muss die Nacht gesehen haben, bevor man den Tag begreift», schreibt die amerikanische Dichterin Anne Sexton. Die Nacht geht also dem Tag nicht nur voraus. In ihr sind auch Erfahrungen angelegt, die ein Verstehen des Tages voraussetzen. Denn seit der Antike wird sie als besonderer Schauplatz für Handlungen, Begegnungen und Erkenntnisse verstanden, die einen Kommentar zum Tag bieten. Was aber heißt es, die Nacht zu sehen? Beeinträchtigt nicht die Zeit nach der Abenddämmerung, während der die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet, bekanntlich das Sehvermögen? Zwar gibt es nach Anbruch der Dunkelheit das Licht des Mondes und der Sterne sowie die künstliche Beleuchtung der Elektrizität. Im Gegensatz zum Tag werden jedoch vom nächtlichen Licht beleuchtete Gegenstände nur unvollständig gesehen. Zieht die herabsinkende Sonne bereits Schatten hinter sich, die die ganze sichtbare Welt in einen dunklen Mantel zu hüllen drohen, werden, nachdem das Nachleuchten ihres Lichts endgültig erloschen ist, die Konturen der Umwelt und ihrer Bewohner unscharf. Der Raum verliert sein Maß, Distanz und Nähe können nicht mehr genau eingeschätzt werden. Es entsteht die Erfahrung einer Ortlosigkeit, eines Stillstands von Zeit, einer Verortung jenseits von Raum und Zeit, vertraut und fremd zugleich. Was also kann man in dieser veränderten Welt sehen?

Weil das nächtliche Spiel von bedingtem Licht und tiefen Schatten einen Ort der Verwandlungen entstehen lässt, entfaltet die Welt zwischen Dämmerung und Morgenröte ein anderes Gesicht als bei Tag. Sicher kann man sich nie sein, ob die Erscheinungen, die man dort antrifft, Täuschungen sind, Chimären der eigenen Fantasie. Zugleich führt die Reduzierung des Sehvermögens nicht nur zur Verunsicherung des Blickes. Sie ruft auch ein anderes Sehen hervor, lässt den Nachtwandler eine verwandelte Welt wahrnehmen. Changiert aufgrund eines Mangels an klarem Licht der nächtliche Schauplatz beständig in seiner Gestalt, so sind auch die Gefühle, die er auslöst, wandelbar. Mehr als bei Tag entspricht der nächtliche Raum den Geisteszuständen derjenigen, die ihn besuchen anstatt ruhig im Bett zu liegen und zu träumen. In einem Foto von Andreas Züst strahlt die in warmes Licht getauchte nocturne Landschaft eine alles einhüllende friedliche Ruhe aus. Die Schattierungen der gelb getönten Dunkelheit lenken den Blick auf die erleuchtete Wiese, die sich geheimnisvoll wie eine Bühne auftut, auf der man sich geheimnisvollen Begegnungen hingeben könnte. Dieselbe Landschaft erscheint hingegen in einem zweiten Foto von einem kalten weißen Licht erhellt wie ein rätselhaftes Nebelgebilde: Schauplatz für fremde und bedrohliche Erscheinungen, die eher Unlustgefühle und Angst auslösen würden.

So unterschiedlich beide Szenen auch sein mögen, entscheidend ist, dass sich die Stimmung, die mit einer Veränderung der Lichtfarbe einhergeht, jeweils nur vor dem Hintergrund der nächtlichen Dunkelheit entfalten kann. Ausschlaggebend ist ferner, dass, weil dieses Schwarz, von dem sichjegliche Beleuchtung der Nacht absetzt, alles ins Ungewisse schwankt, jede Szene, die im anderen Licht der Nacht erscheint, ein emotional aufgeladenes Wahrnehmen wachruft. Steht der Tag, den man begreifen kann, nachdem man die Nacht gesehen hat, für klare, vernünftige und eindeutige Erkenntnisse und Handlungen, lässt die ungenügende Sichtbarkeit der Nacht eine Welt des Zwielichtigen entstehen. Für die Seinszustände, die wir gerne der Welt nach Anbruch der Dunkelheit zuschreiben, bedeutet dies: In der Zeit zwischen Abenddämmerung und Morgenröte lässt sich sowohl im Stillen nachsinnen wie auch gegenseitig Geschichten erzählen. In der Nacht lässt man sich aber auch leichter erschrecken und von Angstzuständen einholen als bei Tag, ist sie doch auch der bevorzugte Zeitraum für rauschhafte Visionen des Schönen sowie jenes Hellsehen, das einen Kontakt mit Geistern und Toten unterhält. Die Nacht weckt Empfindungen des Entsetzens wie des Trostes; der Verblendung wie der Klarsicht. In ihr kann eine unheilvolle Todesbedrohung in ein heilvolles Aufwachen münden.

Apodiktisch formuliert: Der Nacht als Kehrseite des Tages haftet eine irreduzible Ambivalenz an, und diese lässt sich auch auf das Medium der Fotografie übertragen, die deren schillernde Palette an Emotionen als  Nachtlandschaften im Bild einzufangen sucht. In der fotografischen Wiedergabe der Nacht ist die abgebildete Welt nie gänzlich dunkel, auch wenn sie von einem anderen Licht ausgeleuchtet ist als am Tag. Zugleich wird, weil jede künstliche Beleuchtung keine klaren Konturen in die Nacht einführen kann, auf dem nächtlichen Schauplatz immer nur ein Schattenspiel aufgeführt, das eine Verwischung der Übergänge zwischen der Wirklichkeit und dem Virtuellen fördert. Die Nacht zu sehen heißt, im Dunkel eine Tiefe zu erblicken, in der die Fantasie sich ausbreiten muss, weil sie sich an keiner Referentialität jenseits des Bildes festhalten lässt. Bei Andreas Züst tauchen geisterhaft beleuchtete Bergspitzen vor einem weißen Nachthimmel auf und ziehen unseren Blick an eine knapp erleuchtete Stelle weit hinten im Bild. Sowie sich unser Auge, von diesem Licht geleitet, in der schummrigen Szene orientiert hat und hinter den Wolken den Mast eines Schiliftes oder eine kleine, von Schnee bedeckte Erdfläche erkennt, öffnet das Bild seinen Raum. Bei anhaltender Betrachtung beginnen wir in den verschwommenen Wolken und Berggebilden eine andere Tiefe zu erahnen als jene, die dem nackten Auge zugänglich ist. Plötzlich werden die subtilen Schattierungen der Farbe Grau unübersehbar. Die Fläche der Fotografie erhält eine dritte Dimension, die sich im dunklen Grau der Schatten zwar verläuft, sich uns zugleich aber auch taktil aufdrängt. Auch die Mondstrahlen, die die nächtlichen Wolken durchstoßen, erhalten eine zusätzliche Funktion. Sie erhellen nicht nur die Szene, sondern führen zudem die Kategorie der Zeitlichkeit ins Bild ein. Das Licht nämlich, das der Mond wirft und das im Bild als vage konturierter Strahl plastisch wird, ist ein zeitlich begrenztes. Es handelt sich bei diesen Fotografien in doppeltem Sinn um eine Aufnahme der Nacht: Eine Berglandschaft wird nicht nur im Foto festgehalten. Sie existiert auch nur in dem knappen Moment, in dem der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hat. Das Mondlicht könnte sich sofort wieder zurückziehen und alles in ein undifferenziertes und somit unerkenntliches Dunkel zurückversetzen. Der Strahl des Mondlichtes erweist sich als ebenso fragil wie ein Blitzlicht. Beide laufen in jenes Dunkel aus, in das sie für einen kurzen Augenblick Licht einführen.

Man könnte mutmaßen: Das besondere Licht der fotografischen Nocturne, das uns in tiefen Schatten und verschwommenen Konturen Gebilde der Welt wahrnehmen lässt, die sich erst durch eine Konzentration auf das Bild zeigen, kann als Chiffre verstanden werden für jene Beleuchtung, welche die Voraussetzung der Fotografie überhaupt ist. Aufnahmen von Nachtlandschaften stellen somit nicht nur den Versuch dar, die Nacht zu sehen, sondern dienen zugleich einer Reflexion darüber, was es heißt, dieses andere Sehen in das Medium der Fotografie zu übertragen. Seit der frühen Renaissance diente die Nachtlandschaft, mit ihren unterschiedlichen Quellen der Beleuchtung – dem Mondlicht und den Sternen, der Widerspiegelung der Gestirne im Wasser sowie dem Schein eines offenen Feuers, einer Laterne oder jeglicher Form von elektrischem Licht –, dazu, im Medium der Malerei den Einsatz von Licht zu erproben. Immerhin, die gänzlich weiße Leinwand sowie eine mit Farbe aufgetragene gänzlich schwarze Fläche entsprechen sich darin, dass sie keine Gestaltungen erkennen lassen. Erst das Hinzufügen einer schattierungsreichen Palette der Farbe Grau erzeugt jene Differenz zwischen den beiden Extremen, die es dem Maler erlaubt, auf der Leinwand erkennbare Gestalten erscheinen zu lassen. Das reine Weiß und das reine Schwarz treffen sich in jenem Wechselspiel von Licht und Schatten, aus dem eine erhellte Dunkelheit und ein verdunkeltes Licht entstehen.

Deshalb erlauben jene Experimente mit einem der Dunkelheit abgerungenen Licht, für das die Gattung Nocturne weiterhin in der Malerei eingesetzt wird, auch dem Fotografen, über die Möglichkeiten seines eigenen Mediums nachzudenken. Was heißt es für ihn, mit seinem Blitzlicht Helligkeit ins Dunkel einzuführen? In einem Foto von Andreas Züst überflutet dieses den Rahmen des Bildes und löst jegliche natürliche Beleuchtung ab, verwischt zugleich aber auch die Konturen der Bäume im Vordergrund des Bildes. Dieses gleißende Weiß bleibt dem Schwarz der nächtlichen Welt zugleich verhaftet, erhält es seine Brillanz doch nur dadurch, dass es auf diese eine übermässige Erleuchtung übertragt. Zugleich sehen wir die Quelle wie auch den Widerschein des Blitzlichtes am oberen und unteren Rand des Bildausschnitts: markierte Parameter, die diese Aufnahme überhaupt erst entstehen lassen. Andere Fotos wiederum gehen der Frage nach, wie aus dem durch die Finsternis beschränkten Licht, das der Fotograf in der nächtlichen Landschaft vorfindet, eine differenzierte Farbkomposition entstehen kann. In einem hängt ein mit rotem Licht umrandeter Mond mitten im Himmel. Von ihm geht ein diffuses Lichtquadrat aus, das am unteren linken Rand im Funkeln elektrisch beleuchteter Häuser, die ansonsten nicht erkennbar sind, ein visuelles Gegengewicht erfährt.

Die erleuchtete Fläche ergibt jedoch in sich ein differenziertes Wechselspiel von Erhellung und Verdunkelung. Eine Wolkenmasse trägt das gesamte Farbspektrum von Weiß bis Schwarz aus; über ihr liegt ein Himmelstreifen, in dem der rötliche Glanz des Mondes sich mit den Wolkenstreifen verwoben hat und somit ein filigranes, fast transparentes Gegengebilde zu der fülligen Wolkenmasse darstellt, die ihrerseits nach unten in einen wesentlich weniger dichten Nebel ausläuft, durch den Bäume und Felsen nur ungenaue Konturen annehmen. Eingerahmt hingegen ist dieses Lichtspiel an allen vier Ecken vom undurchdringlichen Schwarz jener nächtlichen Welt, die vom Mondlicht nicht beleuchtet wird, sodass ein doppelter Blick auf diese unheimliche Landschaft aufgerufen wird. Wir können darin eine mimetische Wiedergabe einer nächtlichen Szene erkennen, die Assoziationen zu unseren eigenen Erfahrungen der Welt nach Anbruch der Dunkelheit aufruft. Wir können aber auch von jeglichem Verweis auf die reale Welt, die diesem Foto als Vorlage diente, absehen und unseren Blick auf die abstrakten Formen konzentrieren, die sich im Spiel der von Rot durchzogenen Grautöne zwischen erhellter Dunkelheit und verdunkeltem Licht ergeben. Dann sehen wir in dem durch unterschiedliche Texturen gezeichneten Quadrat ein abstraktes Bild im Bild. Für die Nacht, die wir in den Fotoarbeiten von Andreas Züst sehen lernen können, um daraufhin den Tag zu begreifen, ist deshalb entscheidend: Sie verweist zwar auf konkrete Erfahrungen der Welt zwischen Dämmerung und Morgenröte. Zugleich ist die Nacht, die sich in diesen Aufnahmen zeigt, eine mit den Tricks des fotografischen Mediums visuell erzeugte. Die nächtliche Verwandlung, die eine vertraute Welt fremd und zugleich faszinierend macht, wird explizit mit jener strengen Formalisierung gekoppelt, mit der Realität in ästhetische Zeichen überführt wird. Halten wir nochmals fest: Die Nacht stellt in unserem alltäglichen Verständnis der Tageszeiten einen Kommentar zum Tag dar; eine Abweichung, eine Abwandlung, eine Verfremdung. Als die Kehrseite des Tages ist sie die bemerkenswertere Tageszeit. Egal, ob man sie liebt oder fürchtet, ob man sie lobt oder zu verdrängen sucht, die Nacht ist das, wovon man spricht, weil wir zu ihr ein imaginäres Verhältnis unterhalten. Es ist der Zeitraum unserer Wünsche, Träume und Fantasien.

Durchaus in diesem Sinne lenkt Andreas Züst unsere Aufmerksamkeit darauf, wie differenziert eine fotografisch aufgearbeitete Nacht die Kehrseite des Tageslichts darzustellen erlaubt und somit auch einen Kommentar bietet zu der Art, wie wir im Dunkeln anders sehen. Die veränderte Welt, die sich in seinen nächtlichen Seelandschaften unserem Auge offenbart, wird als Spiel konkurrierender Lichtgebilde modelliert. Mal entsprechen die funkelnden Sterne dem Lichtmeer der elektrisch beleuchteten Stadt, das sich am Seeufer entlangzieht. Unheimlich steigt das elektrische Licht hinter den abgedunkelten Straßen empor, analog zum erhellten Himmel hinter der Bergkette. Mal gibt es gar keine Himmelsbeleuchtung und der See erscheint stattdessen von einer rötlichen Lichtkette umgarnt. Dann wieder tut sich auf einem bewölkten Himmel ein irreales Licht auf, das Himmel und Erde zu einem einzigen Farbstreifen verbindet und nicht nur die Umrisse der nächtlichen Stadt, sondern überhaupt den Übergang von Landschaft und Himmel auslöscht. Die Beleuchtung im Bild wird zur Beleuchtung als Bild. Wertet unser kulturelles Imaginäres die Nacht auf, weil sie poetischer erscheint als der prosaische, realistische Tag, eröffnen auch das schillernde Lichtspiel und die haptische Textur des Nachthimmels, die Andreas Züsts Fotografien einfangen, einen Raum der Zeichen, der mit der Verdunklung eines klaren Tageslichts eine Erleuchtung der nächtlichen Finsternis durchspielt, die die abgebildete Welt in den Bereich einer nicht mehr mimetischen Formalisierung übertragt.

Michel Foucault hat den Begriff der Heterotopie geprägt, um über jene wirklichen, wirksamen Orte zu sprechen, die als Gegenplatzierungen oder Widerlager in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind. Heterotopien versteht er als tatsächlich realisierte Utopien, weil in ihnen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind. Es sind Orte, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Normalität befinden, auch wenn sie eindeutig lokalisiert werden können. Obwohl sie sich deutlich von den Orten des Alltagslebens unterscheiden, spiegeln sie diese wider, sagen, als deren Außenseite, etwas über den Tag aus, beziehen sich auf ihn. Überträgt man diesen Begriff auf fotografisch erzeugte Nachtszenen, ist entscheidend, dass laut Foucault Heterotopien tatsächlich existierende Orte mit unmöglichen, fantastischen Positionen verknüpfen. Somit lässt sich sagen: Als Heterotopie konzipiert, schmücken Nachtaufnahmen jene unheimliche Interferenz aus, die sich zwischen einem lebensweltlich erfahrbaren Zeitraum und dessen Überführung in die reine Formsprache des ästhetischen Werkes ergibt. Die Nachtfotografie spiegelt die alltäglich erfahrbare Nacht und wendet sie zugleich derart, dass diese als Lichtspiel, als Farbstreifen, als Bild im Bild erscheint; erkennbar und verfremdet zugleich. Sagt die Nacht als Kehrseite des Tages etwas über jene Gefühle und Handlungen aus, die eher in ihr stattfinden können, so bilden Nachtfotografien einen doppelten Kommentar zum Alltäglichen. Sie greifen jene Ambivalenz der Einstellungen auf, die eher der Nacht als dem Tag zugeschrieben werden. Sie sagen auch etwas darüber aus, dass dieser Zeitraum der Wünsche, Fantasien, aber auch Ängste besonders dann wirksam ist, wenn er als ästhetisch formalisierter wiedererfahren wird.

Andreas Züsts Fotoarbeiten zum nächtlichen Zusammenspiel einer erhellten Dunkelheit mit einem abgedunkelten Licht dienen jedoch nicht nur einer medialen Reflexion darüber, wie wir in der Nacht sehen, sondern auch, was dieser heterotope Zeitraum uns anders erblicken lässt. Sie bieten nämlich teilweise szenische Seinszustände dar, die auf jene vorwiegend in der Nacht erfahrbare Vergänglichkeit des Daseins aufmerksam machen. Fernab der Ablenkungen jeglicher Tagesgeschäfte lässt sich in der ins Dunkel versunkenen Welt jener tiefe Abgrund des Seins erfahren, von dem nicht nur alles Leben ausgeht, sondern in den auch alles Leben unweigerlich mündet. Weil uns in der Nacht eine Auflösung von Welt im Dunkeln vorgeführt wird, auch wenn sie nie ganz erlischt, können wir uns deren Auslöschung im Tod vorstellen. In Fotografien, die die Dunkelheit derart umzusetzen wissen, dass eine lange Belichtungszeit dazu eingesetzt wird, um die künstliche Beleuchtung über mehrere Sekunden aufzuzeichnen, stellt sich aber noch ein weiterer Einblick in die Vergänglichkeit von Welt ein. In einem Foto sehen wir ein verwackeltes Lichtmeer, in einem anderen die Spur, die ein sich bewegendes Licht hinter sich gelassen hat. In einem dritten ein um sich selbst kreisendes Licht, das wie Farbtupfen sowohl über den nächtlichen Himmel verstreut ist als auch über der im unkenntlichen Nebel liegenden Erde.

Nicht nur ein zauberhaftes Lichtspektakel, welches das nackte Auge nicht sehen kann, wird in diesen Aufnahmen festgehalten. Wir erblicken auch eine Verräumlichung von Zeit, die sich über die Fläche des Bildes ausbreitet. Dadurch wird jedoch nicht so sehr ihre Stetigkeit visuell hervorgehoben, als der Umstand, dass die Nacht immer schon dabei ist, sich zu verflüchtigen. Sie muss vergehen, in eine Morgenröte münden, auch wenn wir am Ende eines jeden Tages ebenfalls den Anbruch der Abenddämmerung erwarten dürfen. Nur lässt sich an den Lichtspuren am nächtlichen Himmel wesentlich deutlicher der Ablauf der Zeit ablesen und somit die Fragilität des Zeitraums, der im Foto eingefangen worden ist. Die visuelle Brisanz dieser Momentaufnahmen liegt darin, dass wir wissen, die nächtliche Szene, die sich vor unserem Auge ausbreitet, ist nicht von Dauer gewesen. Das Bild hingegen hat diese Flüchtigkeit aufgehalten, im Rahmen festgehalten.

Doch die Vergänglichkeit der Welt zeigt sich auch mit besonderer Leuchtkraft in jenen Nachtfotografien, die eine halluzinatorische Szene darbieten: eine von einem roten Licht erhellte Straße, die durch einen Wald führt. Die Quelle des Lichts hingegen ist im Bild nicht anwesend. Eine einzelne, rot leuchtende Lampe zwischen düsteren Bäumen, die uns verführerisch anzieht. Wohin sie uns lotst, können wir nicht erkennen. Ein gespenstisches Haus, das über eine Brücke ragt und uns beobachtet. Man muss sich fragen, ob die Nacht die Steinfassade wach geküsst hat. Ein Auto steht von Menschen verlassen auf einer Landstraße. Nur der Lichtstreifen am Straßenrand erhellt irreal die Szene. Unheimlich nennt Sigmund Freud das Zusammenfließen von Lebendem und Unbelebtem, das dem Verwischen der Konturen der Welt in nächtlichen Szenen eine psychologische Dimension hinzufügt. Fremd und zugleich faszinierend erscheinen uns diese Nachtszenen deshalb, weil wir sie als belebt erfahren, obgleich sie ohne Menschen sind. Das Leben ist auf die Gegenstände übergegangen, die dadurch wie Phantome wirken und uns einen Geisteszustand zu eröffnen versprechen, der die Kehrseite des vernünftigen Verstandes ausmacht, die Nachtseite unserer Psyche. Nicht das Auslöschen von Welt rückt hier ins Blickfeld, sondern der Einzug in eine andere, nicht reale Welt; die Realisierung des Virtuellen im Fotobild. Um eben diese faszinierende und zugleich bedrohliche Inspiration nachzuzeichnen, die von jener Weltentronnenheit ausgeht, die man in der einsam durchlaufenen Nacht erlebt, hat Maurice Blanchot den Begriff der autre nuit geprägt: «Wenn alles in der Nacht verschwunden ist, erscheint, alles was verschwunden ist‘.» Dabei ist diese andere Nacht kein begehbarer Zeitraum, sondern eine Leere, auf die jegliche Phantasmagorien zwar verweisen, vor deren unermesslichem Abgrund gleichzeitig aber auch schützen. Zwar kann der Nachtfotograf sich mit dieser anderen Nacht umgeben, sie in sich aufnehmen. Dennoch öffnet sie sich diesem Nachtwandler nie ganz. Sie bleibt ihm stets unzugänglich, weil sich Zutritt zu ihr zu verschaffen bedeuten würde, zu einem reinen Ort des Außen vorzudringen und somit die Möglichkeit zu verlieren, ihn wieder zu verlassen. Es ist für Blanchot eher die Faszination für das Fremde, das Leere der reinen Einsamkeit, welches einem erlaubt, die begehbare Nacht dieser autre nuit gegenüber zu öffnen. Vor allem aber inspiriert diese andere Nacht eine Fotografie, die auf ihre eigene Medialität verweist, indem sie jede mimetische Wiedergabe der alltäglichen Nacht mit einer von dieser losgelösten reinen Zeichenhaftigkeit überlagert. Diese von ihren Bezügen zur Welt losgelöste Fotografie führt uns in jenes Außen. Sie erlaubt uns, imaginativ eine Selbstentgrenzung nachzuvollziehen, indem wir unser Auge in den Raum einer reinen, sich selbst reflektierenden und widerspiegelnden visuellen Formsprache übergehen lassen.

In einigen Arbeiten von Andreas Züst sehen wir nur noch einen knappen Streifen einer künstlich beleuchteten Nachtlandschaft unten im Bild. Die Fotografien laufen in die weite Leere des Nachthimmels aus, der eine differenzierte Textur entfaltet. Nicht die Fragilität des Augenblicks rückt hier ins Blickfeld, sondern eine Passage in die reine visuelle Abstraktion. Als Horizontlinie gesetzt, wird die materielle Welt zugleich als Grenze jenes Sichtbaren festgesetzt, wo das eigene Sehen selbst infrage gestellt wird.

Denn von ihr geht eine Vorführung jenes tiefen Raums aus, jenes in den Nachthimmel verlagerten Abgrundes der autre nuit, von der Blanchot feststellt, sie sei nur rein abstrakt zu denken. Zugleich hat diese andere Nacht, die sich in dem unbegrenzten Himmel andeuten lässt, zutiefst existenziellen Wert. Lässt sie uns doch jene Leere ohne Sein erahnen, auf die das Dasein einwirkt, die zugleich aber nicht zugänglich ist. Diese andere Nacht zu sehen heißt, das Unmögliche an sich heranzulassen, das Nichts jenseits aller Sinneswahrnehmung. Wie Blanchot festhält, gibt es Tag, weil alles in eine Nacht mündet, die eine Annäherung an den Ursprung und das Ziel alles Seienden darstellt. Gleichzeitigist der Tag das, was über diese Leere des Unbelebten, des Todes hinausführt. Sie stellt nicht nur die Grenze dar, die gesetzt werden muss, um den Tag als Zeitraum zu bestimmen. Sie ist zudem die vorgängige Essenz, die es um ihrer selbst Willen zu bewahren gilt. Zugleich muss sie aber auch in jenen Tag übergehen, dessen Licht sie zerstreut. Doch indem der Tag sich die Nacht aneignet, wird dessen Licht auch reichhaltiger. Deshalb muss man die Nacht gesehen haben, um den Tod zu begreifen. Die am Ende der Nacht gewonnene Klarheit stellt eine Aufhellung der Dunkelheit dar, in der die Spuren dieses anderen Zeitraums nachwirken. Die Nacht ist ein Ort der Passage. Wir brauchen sie, um verborgene Welten zu erfahren, zu erforschen und von ihnen Bilder zu machen. Als Ort des Umschlags können in ihr, von ihrem anderen Licht erhellt, Gestaltungen plastisch werden, die das alltägliche Auge entweder nicht sehen kann oder nicht sehen will. Dabei steht die Fragilität dieses Zeitraums immer im Vordergrund des visuellen Zaubers, den sie entfaltet. Unweigerlich bricht die Nacht am Ende des Tages an. Unweigerlich mündet sie im Morgengrauen. Das Licht des Tages ist in ihr bereits angelegt. In einem Foto von Andreas Züst sehen wir das weiße Strahlen des Mondes: weder eindeutig Nacht noch Tag, sondern Nacht und Tag. Entscheidbar ist lediglich, dass ein Moment eingefangen worden ist, in dem sich etwas ereignet. Im Vergehen beginnt auch etwas zu entstehen. Diesen Übergang im Bild anzuhalten, als Bild aufzuhalten, ist immer schon das Versprechen der Fotografie gewesen. Sie verwischt nicht nur die Grenze zwischen dem Vergänglichen und der Unsterblichkeit. Auf reine Lichtspuren enggeführt, die vor einem ins Unergründliche auslaufenden dunklen Himmel verharren, benennt diese Fotografie ihre eigene mediale Quintessenz.

Elisabeth Bronfen

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Elisabeth Bronfen ist Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 zudem Global Distinguished Professor an der New York University. Ihr Spezialgebiet ist die anglo-amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse, Film- und Kulturwissenschaften wie auch Beiträge für Ausstellungskataloge geschrieben. Zu ihren Buchveröffentlichungen zählen unter anderem:
Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (1993),
Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood (1999),
Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung (2002),
Liebestod und Femme fatale (2004),
Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht (2008).

Benutzte Literatur:

Maurice Blanchot, «Le Dehors. La Nuit», in: L’espace littéraire, Paris 1986.
Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008.
Michel Foucault, «Andere Räume», in: Aisthesis. Wahrnehmung Heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991.
Sigmund Freud, «Das Unheimliche (1919)», in: Gesammelte Werke XII, Frankfurt am Main 1947.
Gérard Genette, «Le Jour. La Nuit», in: Cahiers de l’Association Internationale des Etudes Française 20 (Mai 1968).
Anne Sexton, «Die dem Bösen nachspüren», in: Buch der Torheit. Das ehrfürchtige Rudern hin zu Gott, Frankfurt am Main 1998.